11. Woche: Alkohol, Homophobie & Schneeregen

Woran denkt man, wenn man "Russland" hört? Die erste Antwort ist da meistens: Vodka. Sofort hat man das Stereotyp vom dauer-betrunkenen Russen im Kopf. Aber ich kann euch beruhigen: so schlimm ist es nicht. Trotzdem hatte ich diese Woche ein paar unangenehme Begegnungen mit betrunkenen Männern, die mich über Alkoholismus in Russland nachdenken lassen.

Ich habe den Eindruck, als ob hier mehr Menschen aus der Unterschicht/Mittelschicht eine Akoholsucht haben, aber trotzdem arbeiten und einen "normalen" Alltag haben- bloß halt mit Alkohol. Z.B. habe ich am Montag einen Müllwagen gesehen und die 2 Männer, die die Müllcontainer grad entleerten, waren wirklich äußerst alkoholisiert (ich habe es auf mindestens 3 Promille geschätzt...) und man roch ihre Fahne schon 10 Meter vorher. Ich hoffte sehr, dass wenigstens der Fahrer des Wagens nüchtern war... Als ich davon in der WG erzählte, meinte Sven, dass er auch schon öfter betrunkene Bauarbeiter bei der Arbeit gesehen hat. Für deutsche Verhältnisse ist das unvorstellbar (allein schon die Sicherheitsaspekte!). In Deutschland hatte ich eher das Gefühl, dass wenn jemand eine Alkoholsucht hat, er entweder sein komplettes Leben nicht mehr im Griff hat und auch nicht arbeitet oder es so gut verstecken kann, dass es dem sozialen Umfeld gar nicht oder erst sehr spät auffällt. Ich habe auch nie tagsüber betrunkene Menschen gesehen, die nicht obdachlos wirkten. Man muss aber natürlich auch anmerken, dass es hier kein Sozialsystem gibt, welches einen auffangen würde. Was bleibt den Menschen also anderes übrig, als betrunken zur Arbeit zu gehen? Bzw sich da zu betrinken? Wenn es anscheinend toleriert wird, auf der Baustelle etc. alkoholisiert zu sein. Und Alkohol als die einzige Möglichkeit gesehen wird, den harten Lebensbedingungen ein bisschen zu entkommen und sie für einige Zeit zu vergessen... 

Ansonsten habe ich diese Woche auch viele betrunkene Menschen im Bus gesehen (so um 13 Uhr)- einer hat Sven auch angesprochen (nachdem er mich von oben bis unten gemustert hat und mich danach noch mehrere male so richtig ekelig angeguckt hat...) und versucht, sich mit ihm zu unterhalten. Aber war halt dieses typische "betrunkene" Gespräch. Naja. Aber es war auch das erste mal, dass wir von einem angesprochen wurden und wir sind seit 2,5 Monaten hier. Also: es gibt nicht nur betrunkene Russen :D

Interessant ist aber auch die junge Generation hier in Russland. Weil die Älteren so negativ mit dem Alkoholkonsum auffallen, gibt es sehr viele Jugendliche, die gar nichts trinken. Wirklich gar nichts. Wir waren am Anfang total erstaunt, dass so viele nichts trinken wollten! Es war und ist immer noch schwierig, Leute zu finden, mit denen man Freitagabends ein Bier in einer Bar trinken kann. Damit haben wir gar nicht in Russland gerechnet :D 

Generell muss man auch sagen, dass auf dem Land Alkohol ein größeres Problem ist als in Großstädten. Und der Staat versucht mit einigen Gesetzen das Problem einzudämmen (man darf öffentlich keinen Alkohol trinken und zwischen 22 und 10 Uhr dürfen Geschäfte auch keinen verkaufen). 

Russland ist auch bekannt für die strikte Ablehnung von Homosexualität. Das ist leider nicht nur ein Vorurteil, sondern beschreibt wirklich das Denken von dem Großteil der Bevölkerung. In meiner ersten Klasse sind nur Jungs, und einer von denen sucht oft den Körperkontakt zu den anderen und umarmt sie dann zärtlich oder streichelt ihr Gesicht. Die Lehrerin sagt dann Sachen wie "Hör auf damit! Wir wollen hier doch keine Schwuchteln heranziehen." (Wenn 7-8jährige Jungs andere Jungs umarmen, dann natürlich nur, weil sie sich sexuell von ihnen erregt fühlen und intim miteinander sein wollen...)

Die Hilfslehrerin hat mich diese Woche gefragt, wie das so ist mit den Homosexuellen in unserem "so toleranten Europa" und ob die heiraten dürfen. "Ja dürfen sie in Deutschland, aber erst seit kurzem. In den Niederlanden ist das schon viel länger so ." 

"Also mir ist es egal, wer mit wem wie zusammen lebt, aber man sollte auf keinen Fall Kinder so erziehen! Schließlich werden Kinder nur zu diesem unnatürlichen Verhalten finden, wenn man sie falsch erzogen hat. Wenn ich mir vorstelle, wie zwei Männer sich küssen... Neee! Wie findest du das so, dass die bei euch heiraten dürfen?" 

gaaaanz schwieriges Thema in Russland- ich versuche zu antworten: "Ja hmmm also ich hab nichts mit dem Thema zu tun (Lüge Nr. 1) und es ist mir auch total egal, ob sie heiraten dürfen oder nicht (Lüge Nr. 2) aber letztendlich tun sie ja niemandem etwas, wenn sie verheiratet sind oder nicht, und stören niemanden. Deswegen sollen sie machen, was sie wollen (das war sogar ernst gemeint :D)."

Das Ding ist: die orthodoxe Kirche ist ganz streng gegen Homosexualität und da die meisten hier orthodox sind, wirkt sich diese Einstellung natürlich auch auf die gesamte Gesellschaft aus. Und der Staat unterstützt das sogar: vor ein paar Jahren wurde ein Gesetz verabschiedet, welches positive Äußerungen zur Homosexualität in Anwesenheit von minderjährigen Kindern und Jugendlichen verbietet. Theoretisch hätte ich mich also sogar strafbar gemacht, wenn ich bei dem Gespräch mit der Hilfslehrerin für Gleichberechtigung etc geschwärmt hätte, da die Schüler mit im Raum waren : ) Willkommen im 21. Jahrhundert. 

Ich habe aber auch eine weitere kleine Theorie zu der Homophobie in Russland: Das Land war schon immer ziemlich groß und die Bevölkerungsdichte sehr niedrig. Wenn man Homosexuelle als Geisteskranke bezeichnet, dann sorgt das dafür, dass sich niemand outen will (und auch kein inneres Outing) und somit trotzdem in einer Heterobeziehung ist und Kinder zeugt. Damit trägt man etwas zum Bevölkerungswachstum bei und die Bevölkerungsdichte schrumpft nicht : )

 

Und dann merkt man wieder, dass in diesem Land die Reformen einfach gefehlt haben. Ich habe z.B. erfahren, dass es hier immer noch keinen Aufklärungsunterricht in Schulen gibt (in Deutschland gibt es den seit 1970). Die Mächen aus dem Studentenwohnheim waren total erstaunt darüber, dass wir in der Grundschule Tampons in Wasserbecher gehalten haben und dass auch Jungs etwas über die Menstruation gelernt haben. Und dass wir in der 6. Klasse Kondome über Holzdildos gezogen haben- unvorstellbar! Und dass wir in der Schule offen über Sex und Schwangerschaftsverhütung und Geschlechtskrankheiten geredet haben...  (Und auch über unterschiedliche sexuelle Orientierungen :D) Als wir uns über das Thema unterhalten haben, sind sie auch sehr verklemmt damit umgegangen. Ich habe in die Gruppe gefragt, was Kondom auf russisch heißt- ein Mädchen hat das russische Wort dann in ihr Handy eingetippt und mir gegeben, weil man das ja nicht offen sagt, während man in einem Cafe sitzt : ) Über Sex und alles was dazu gehört unterhält man sich einfach nicht. Es ist ja auch nicht wichtig, Schülern beizubringen, wie man richtig verhütet : ) Zum Glück sorgen alle Eltern für eine angemessene Aufklärung zu Hause! : )

Und was ich sonst noch erzählen will: es hat diese Woche richtig oft ekeligen Schneeregen gegeben :D Ich dachte, im November wird auf jeden Fall schon Schnee liegen- Pustekuchen! Stattdessen gibt es überall riesige Pfützen und Temperaturen von 0-2 Grad. Die Erderwärmung ist auch in Russland angekommen :D Auf jeden Fall bin ich gespannt, wann der richtige Winter dieses Jahr anfangen wird. 

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Kommentare: 3
  • #1

    Anna und Stefan (Montag, 20 November 2017 18:57)

    Hallo Julia. Ich glaube beides, sowohl die Ablehnung von Homosexualität als auch der Alkoholismus sind Produkte der Volksführung und der politischen Struktur des Landes. Russland wird (wie damals auch die UdSSR) kontrolliert und überwacht geführt. Das Volk wird in seiner Freiheit in einigen Punkten geradezu beschnitten. Zumindest hört sich das ein oder andere für mich so an. Sicherlich kann man den Alkoholismus der Jahreszeit (Alkohol hält warm, gefriert nicht so schnell im Winter) zuschreiben und die Homophobie der Kirche. Genauso gut stell ich mir die Frage: Was würde ich machen, wenn ich den Dru

  • #2

    Anna und Stefan (Montag, 20 November 2017 19:04)

    Sorry, falsche Taste...
    Also die Frage, was ich machen würde, wenn ich den Druck jeden Tag hätte, arbeiten zu müssen, ob ich will oder nicht, um nicht zu verhungern? Durchaus stellt sich Alkohol als geeignete Methode dar, um sich diese Frage ab und zu nicht zu stellen. Oder es ist die Geselligkeit, die das Feuerwasser mit sich bringt.
    Hier könnte auch die politische Kontrolle Ursache sein, da kein Sozialsystem vorhanden ist, der die Leute absichert. Homosexualität kommt aus Europa, soviel ist klar. Und von Europa möchte man sich ja abgrenzen. Nicht nur durch Staatsgrenzen.
    Ich hoffe, dass sich für Dich unangenehme Situationen in Grenzen halten und das Wetter wieder besser mitspielt.
    Wir sind in Gedanken bei Dir.
    Liebe Grüße aus Moers und Essen :)

  • #3

    Julia (Sonntag, 26 November 2017 18:50)

    Liebe Anna, lieber Stefan,
    Vielen Dank, dass ihr jede Woche meinen Blog lest; es rührt mich wirklich sehr :)
    Ich habe von einem Mädchen (18, studiert im 1. Jahr an der Uni) vor ein paar Tagen etwas interessantes erfahren: Jedes Gebiet (sowas wie bei uns ein Bundesland) bekommt vom Staat Gelder für das Sozialbudget. In Nischni gibt es aber trotzdem keine gute Sozialversicherung, weil die verantwortlichen Kommunalpolitiker sich das Geld in die eigene Tasche stecken. Sie kommt aus einer kleinen Stadt in Sibirien und dort ging es den Leuten bezüglich des Sozialsystems sehr gut, da der verantwortliche Politiker sehr verantwortungsbewusst mit dem Budget umgegangen ist. Fand ich schon krass zu sehen, wie offen die Korruption in der politischen Ebene hier bekannt ist.