22. Woche: Autismus

 

 

"Ich stand bei der Sandkiste. Christoph [...] hatte von meinem Geburtstag gehört. Er fragte mich: "Wie alt wirst du morgen?"

Seine Frage machte mich verlegen. Zu den Worten, die für mich noch Geräusch waren, gehörten auch viele Zahlen. Ich war drei Jahre alt. Das wusste ich. Die Zahl drei hatte Klang. Ich konnte sie hören. Ich konnte sie über meine Lippen bringen. Die Zahl vier hatte keinen Klang. Die Zahl vier war Geräusch. Ich wusste, dieses Geräusch hatte Bedeutung. Das Geräusch war aber nicht so freundlich, mir seinen Klang zu verraten. Ich konnte Christoph die Antwort nicht nennen. Er fragte ein zweites Mal. Eine Erklärung schlüpfte aus meinem Mund. 

"Weiß nicht."

Ich hatte Glück. Christoph war ein Buntschatten. Ich gab Auskunft:

"Nicht drei... nicht fünf... vergessen."

Christoph verwandelte sich nicht in eine Fledermaus. 

"Du wirst morgen vier Jahre alt."

Glücklich verstand ich, was Christoph sagte. Leider huschte die Zahl vier zum einen Ohr hinein und hüpfte zum anderen wieder hinaus. Im nächsten Augenblick wusste ich nicht mehr, wie alt ich morgen sein würde.

Am Abend lag ich lange in meinem Bett wach und bat inständig darum, dass am nächsten Tag nicht nur mein größter Wunsch, eine Sandkiste zu bekommen, in Erfüllung ginge. Ich wünschte mir auch, dass ich auf meiner Geburtstagstorte fünf Kerzen würde auspusten dürfen. Das wäre die Rettung. Wie sollte ich sonst das nächste Jahr überstehen, wenn mich jeder nach meinem Alter fragte und ich die Antwort nicht wüsste?"

Dieses Buch habe ich zu Weihnachten bekommen und ich finde es einfach nur super. Der Autor ist ein Autist, und in dem Buch beschreibt er seine Kindheit und Jugend. Besonders faszinierend fand ich seine Erzählungen über seine Schwierigkeiten mit der Sprache als Kind. Schließlich hat er als Erwachsener ein sprachlich außerordentlich gelungenes Buch geschrieben. Diese Entwicklung ist einfach nur... unbeschreiblich :D Außerdem beschreibt er ausführlich seine "Ticks" und wie er sich dabei fühlt, wenn er zum Beispiel zum hundertsten Mal vor dem Einschlafen über seine Bettdecke wischelt und die Zufriedenheit, die er nach dem Erfüllen eines bestimmtes Musters erlebt. 

Seit ich dieses Buch gelesen habe, kann ich die Kinder in meiner Klasse viel besser verstehen. Ich sehe ihre "Ticks" mit ganz anderen Augen und muss immer an eine sich im Buch wiederholende Phrase denken: ein Muster, das Belohnung in sich selbst findet. Und ich kann ihre Probleme mit der Sprache besser nachvollziehen als vorher. Auf der anderen Seite finde ich es traurig zu sehen, dass die Lehrer der Klasse so wenig von den Schülern halten und z.B. über "meinen" Jungen sagen:"Wer weiß, ob er jemals zählen können wird." Es ist das schlimmste, wenn Lehrer nicht an ihre Schüler glauben. Ich denke, zum aktuellen Zeitpunkt kann man wenig drüber sagen, wie sich die Jungs in Zukunft entwickeln werden, da jeder Einzelne sehr individuell ist. Aber ich denke auch, dass man ihnen auf ihrem Weg die größtmögliche Unterstützung und Förderung bieten sollte. Wenn die Lehrer die Lernerfolge allerdings anzweifeln und auch nichts daran tun, um vielleicht doch das Gegenteil zu erreichen, dann ist eigentlich alles verloren. Die Grundschullehrer von Axel Brauns hielten ihn auch für dumm, und hätten sich bestimmt nie im Leben vorstellen können, dass er mal ein Buch schreiben wird. Aber siehe da: aus dem für dumm gehaltenen Jungen ist ein erfolgreicher Erwachsener geworden, der einfach nur ein bisschen in seiner eigenen Welt lebt und dessen Gehirn ein bisschen anders funktioniert als vom Großteil der Gesellschaft. 

 

Ich kann dieses Buch auf jeden Fall an alle weiterempfehlen, die sich für so ein Thema interessieren. 

 

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